Der Zweite Weltkrieg und seine Folgen wirbelte nicht nur die Menschen, sondern auch die Kulturgüter in ganz Europa extrem durcheinander. Archivalien, Bibliotheks- und Museumsbestände strömten nach der Okkupation durch die Wehrmacht als Raubgut in deutsche Depots. Die ehemalige Sowjetunion war davon besonders stark betroffen. Hemmungslos plünderten deutsche Stäbe die Kulturstätten des ideologischen Todfeindes, den Hitler trotz eines Nichtangriffspaktes 1941 attackiert hatte. Es gab zwar auch deutsche Fachleute für den Archiv- oder Bibliotheksschutz in den okkupierten Ländern, doch waren deren Befugnisse beträchtlich eingeschränkt.1 Den Abtransport von Beutegut ins Deutsche Reich durch Organisationen wie den Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg oder das Reichssicherheitshauptamt konnten die eingesetzten deutschen Spezialisten selten verhindern. Die kriegerischen Auseinandersetzungen hatten bereits vielerorts schlimme Zerstörungen und somit immense Verluste verursacht.
Dieses Thema, zu dem es mittlerweile eine reiche Literatur gibt, wird in der vorliegenden Monographie, einer an der Freien Universität Berlin angenommenen Dissertation, natürlich angemessen diskutiert, ist hier aber nicht die zentrale Fragestellung. Es geht um die „andere Seite der Medaille“, den Umgang der Besatzungsmacht Sowjetunion vertreten durch die Sowjetische Militäradministration in Deutschland (SMAD)2 mit den verschleppten und nach 1945 aufgefundenen Kulturgütern in ihrer Zone des ehemaligen Deutschen Reiches, der SBZ. Die auf dem Territorium der SBZ verstreuten Archivbestände mußten an ihren Ursprungsort zurückgebracht werden, der aber leider oft zerstört war. Man mußte nach Alternativen Ausschau zu halten. Verständlicherweise galt das besondere Augenmerk der sowjetischen Spezialisten den vor 1945 in Rußland, Weißrußland, der Ukraine oder dem Baltikum von deutschen Stäben geraubten Beständen. Solche Materialien waren zu ermitteln und dann in die Sowjetunion zurückzuführen. Darüber hinaus interessierte man sich brennend für deutsche Akten mit Bezug zur Sowjetunion, etwa aus Politik, Wirtschaft, Technik oder Kultur. Umfangreiche Aktenbestände traten als Trophäen ihren Weg nach Osten an. Über das sowjetische Archivwesen dürfte man in Deutschland nicht unbedingt ausreichend informiert sein. Die Autorin stellt deswegen ihrer Untersuchung3 eine kurze Skizze der Archivpolitik Rußlands und der Sowjetunion bis 1945 voran, die sie mit dem Verhalten Deutschlands in der Sowjetunion nach 1941 vergleicht. Einige Seiten widmet die Autorin auch der Archivpolitik der Westalliierten in ihren Besatzungszonen nach 1945, die ebenfalls deutsche Archivalien beschlagnahmten und teilweise bis heute nicht zurückgaben.
In den zentralen Kapiteln 2 und 3 geht es dann im Detail um die Institutionen und Akteure, die Initiativen einzelner Institutionen. Hier zeigt sich deutlich, daß sich nicht nur die SMAD, sondern auch die Geheimdienste (NKVD/MWD), die Akademie der Wissenschaften der UdSSR, das Marx-Engels-Lenin-Institut beim Zentralkomitee usw. für einschlägige Dokumente interessierten. Man ist erstaunt, wie vielfältig die sowjetischen Interessen an deutschen Archivalien waren. Aus der SBZ wurden sie dann in die Sowjetunion abtransportiert. Befanden sie sich noch dort, wurden sie von einer Rückgabe nach Deutschland teilweise bis heute ausgeschlossen.
Damit sind wir bei einer politisch wie rechtlich sehr sensiblen Thematik, der Rückgabe bzw. Nichtrückgabe von verlagerten Kulturgütern nach kriegerischen Auseinandersetzungen. Oxana Kosenko zeichnet die wechselvolle Geschichte deutscher Archivalien und - hier eher am Rande, aber in einem Atemzug zu nennen - deutscher Bibliotheksbestände in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten nach. In den 1950er Jahren und auch nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 wurden zwar etliche Materialien zurückgegeben, aber sehr selektiv und zu Zeiten des Kalten Krieges nur an Institutionen der DDR. So befinden sich auch heute noch die in die nachmalige SBZ ausgelagerten Stadtarchive und Stadtbibliotheken von Bremen, Hamburg und Lübeck in Rußland. Nach dem russischen Gesetz des Jahres 1998 sind die Kriegstrophäen in den Besitz Russlands übergegangen. Somit ist mit weiteren Restitutionen aus Rußland kaum zu rechnen. Immerhin kamen aus verschiedenen ehemaligen Sowjetrepubliken (Georgien, Armenien) deutsche Archivalien und Bücher zurück.
Es war eine glückliche Fügung, daß sich eine russische Archivarin der sowjetischen Archivpolitik im besetzten Deutschland, in ihrer Besatzungszone gewidmet und eine gründliche, auf solider Quellenbasis ruhende Darstellung zu Papier gebracht hat. Es wurde deutlich, daß die Sowjetunion in der SBZ keine systematisch geplante Archivpolitik betrieb. Die mit den Archiven und ihren Beständen betrauten Institutionen handelten eher pragmatisch. Als Muttersprachlerin brauchte Oxana Kosenko keine hohen sprachlichen Hürden bei der Lektüre der reichlich konsultierten russischen Archivalien (S. 285 - 286) und auch der analogen russischsprachigen Forschungsliteratur (mit der deutschen Literatur S. 287 - 304) zu überwinden. Die diversen, im Personenregister genannten Akteure dürften nur Spezialisten bekannt sein. Dem Rezenten fiel nur Margarita Ivanovna Rudomino (1900 – 1990)4 auf, die keine Archivarin, sondern Bibliothekarin und 1945/46 als stellvertretende Leiterin der Trophäenkommission der Roten Armee an der Sicherung von Kulturgut in der SBZ beteiligt war. Am Beispiel Rudomino zeigt sich deutlich, daß man nicht streng nach Sicherung von Archivalien einerseits und Bibliotheksbeständen andererseits unterscheiden sollte. Oft ging es um gemischte Bestände und Archivare wie Bibliothekare arbeiteten eng zusammen bei der Sicherung und Sichtung sowjetischen Kulturgutes. Die langjährige, auch in Deutschland gut bekannte Direktorin der Moskauer Allunionsbibliothek für Ausländische Literatur hat es später sehr bereut, am Abtransport deutscher Archiv- und Bibliotheksbestände mitgewirkt zu haben.
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Manfred Komorowski
1
Die Situation der ukrainischen Archive schildert mustergültig: Ein fast vergessener "Osteinsatz": deutsche Archivare im Generalgouvernement und im Reichskommissariat Ukraine / Stefan Lehr. - Düsseldorf : Droste, 2007. - XII, 412 S. ; 25 cm. - (Schriften des Bundesarchivs ; 68). - Zugl. gekürzte Fassung von: Düsseldorf, Univ., Diss., 2006. - ISBN 978-3-7700-1624-2 : EUR 38.00 [9363]. - Rez.: IFB 07-2-289 http://swbplus.bsz-bw.de/bsz271668229rez.htm
2
Besondere Erwähnung verdient hier: SMAD-Handbuch: die Sowjetische Militäradministration in Deutschland 1945 - 1949 / hrsg. von Horst Möller ... Bearb.: Jan Foitzik ... Red.: Jan Foitzik. Autoren: Burghard Ciesla ... - München : Oldenbourg, 2009. - IX, 822 S. ; 24 cm. - ISBN 978-3-486-58696-1
3
Inhaltsverzeichnis: https://d-nb.info/1169850448/04
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Zur Biographie der langjährigen, auch in Deutschland gut bekannten Direktorin der Moskauer Allunionsbibliothek für Ausländische Literatu vgl.: Margarita Ivanovna Rudomino als Vorsitzende des Kulturkomitees der Sowjetunion bei der SMAD in Berlin: einige persönliche Bemerkungen / Friedhilde Krause. // In: Bibliothek und Wissenschaft. - 28 (1995), S. 8 - 26. - Rudomino, Margarita Ivanovna / Ingo Kolasa. // In: Lexikon des gesamten Buchwesens (LGB²). - Bd. 6 (2013), S. 403.