Montag, 09.01.2017, Evangelische Kirche Erlensee-Langendiebach: Der Bischof der EKKW, Prof. Dr. Martin Hein, präsentiert erstmals der Öffentlichkeit in der erstaunlich gut besetzten Kirche das neue Buch des früheren Dekans im Kirchenkreis Hanau-Land, Peter Gbiorczyk, über den ehemaligen Propst im Sprengel Hanau und langjährigen Pfarrer in Langendiebach, Wilhelm Wibbeling. Der Bischof resümiert dabei, dass es nicht nur ein gutes, sondern auch ein schönes Buch geworden sei, und würdigt die Leistung Gbiorczyks, mit "allergrößter Disziplin in einem hermeneutischen Prozess sich eines eigenen Urteils zu enthalten und dem Leser die Möglichkeit zu geben, sich selbst ein Urteil zu bilden", um so dem Menschen gerecht zu werden, den es darzustellen gilt: einen "glaubensstarken Christen reformierter Prägung", wie ihn Hein charakterisiert. Und in der Tat: Gbiorczyk hat sehr akribisch und differenziert mit großer Genauigkeit und Sorgfalt alle Facetten des überaus engagierten und immer sehr kritischen Pfarrers herausgearbeitet und in den historischen Kontext gestellt, ohne dabei den Menschen Wilhelm Wibbeling aus den Augen zu verlieren. Dass dabei ein Werk von fast 800 Seiten herauskam, ist nicht verwunderlich; in insgesamt 24 Kapiteln geht es von der Herkunft aus Uentrop bei Hamm über die beiden Weltkriege, Heirat und Familiengründung, die verschiedenen Pfarrstellen außerhalb und innerhalb Kurhessen-Waldecks, die Neuordnung der Evangelischen Kirche nach 1945 bis hin zu Ruhestand und Tod, wobei zweifelsfrei der Schwerpunkt auf den umfangreichen Kapiteln 13 (die Zeit 1932 bis 1945) und 14 (die Neuordnung der Kirche nach 1945) liegt, die allein über 300 Seiten umfassen. Spannend in diesem Zusammenhang ist auch im 14. Kapitel die Beschreibung der Kritik Wibbelings an der Rolle des Verbands Evangelischer Pfarrvereine und des kurhessischen Vereins mit seinem langjährigen Vorsitzenden Hermann Wepler in den Zeiten des Nationalsozialismus und danach; für mich letztlich vielleicht auch so etwas wie eine Erklärung dafür, warum unser kurhessischer Verein über viele Jahre nach dem Krieg unter doch sehr geringer Mitgliederzahl zu leiden hatte. Um diesen ungemein interessanten Menschen zu begreifen, nur ein paar Daten: 1891 geboren, 1909-1913 Studium der Theologie, 1914-1918 Freiwilliger im 1. Weltkrieg, 1919 "Synodalvikar" in Bochum und damit an einem Brennpunkt wirtschaftlicher und sozialer Auseinandersetzungen unter französischer Besatzung, 1922-1928 Pfarrer in Xanten, in dieser Zeit Mitbegründer des Bundes für die freie Volkskirche, Mitglied der Neuwerk-Bewegung, Mitgründer des Bundes jungevangelischer Pfarrer, 1928-1932 Pfarrer in Hellstein/Udenhain und Neuenschmitten in Zeiten der Bauernnot und Arbeitslosigkeit (interessant, dass schon damals zwischen den Gemeinden heftigste Auseinandersetzungen bestanden, weil eine der Gemeinden sich zurückgesetzt fühlt), 1932-1961 Pfarrer in Langendiebach und zugleich von 1946-1961 Propst im Südsprengel der EKKW. Dazu gehört die Mitgliedschaft in der Bekennenden Kirche, im Bruderrat der BK und im Pfarrernotbund; sein Eintreten gegen völkisches Denken und Antisemitismus; sein Engagement für die sozialen Belange der Menschen, was ihm den Vorwurf des "sozialistischen Pfarrers" und SPD-Mitglieds einbrachte und vor allem bei der Besetzung der Pfarrstelle in Langendiebach zu längeren Auseinandersetzungen führte; nach dem 2. Weltkrieg sein unbedingtes Bekenntnis zu Frieden und Demokratie; sein Engagement in der Bewegung "Kampf dem Atomtod"; seine Ablehnung der Wiederbewaffnung in der BRD und später der Kampf gegen die Notstandsgesetze: in allen Fällen macht er seine Position öffentlich und publiziert in den verschiedensten Zeitschriften mit auch heute noch bemerkenswerten Aufsätzen, die im Buch dankenswerterweise besprochen und teilweise nachgedruckt worden sind. Gbiorczyk gelingt es mit seinem Buch, Wibbeling als Gemeindepfarrer und später als kirchenleitenden Geistlichen in seinem ganzen Spannungsfeld darzustellen und zugleich zu zeigen, wie er über den engeren Gemeindebereich hinaus engagiert ist als scharfsinniger Beobachter und Chronist der Zeit und als solcher zugleich darin Akteur ist, der die Auseinandersetzungen nicht scheut und immer wieder aus seinem Glaubens- und Theologieverständnis heraus agiert. So mancher Gedanke aus seinem reformierten Kirchenverständnis sollte auch heute wieder neu zum Tragen kommen. Bischof Hein schreibt dazu in seinem Geleitwort des Buches: "Mit Wilhelm Wibbeling begegnet uns eine reformierte Tradition, die in Kurhessen - neben dem Luthertum - recht stark war, aber inzwischen aus dem Bewusstsein schwindet. Gerade für das Verständnis des kirchlichen Widerstands, der Bekennenden Kirche, ihres Bruderrates und der späteren Diskussion um die Gestalt der Kirche ist dieser Faktor von entscheidender Bedeutung." Mehr als 600 Seiten Biografie mit vielen Bildern und Dokumenten werden ergänzt durch knapp 40 Seiten Anmerkungen, ein Abkürzungsverzeichnis und 20 Seiten Quellen- und Literaturverzeichnis, sowie fast 50 Seiten Kurzbiogramme - eine wahre Fundgrube! -, einen ausführlichen Bildnachweis, ein Orts- und Länderregister sowie 10 Seiten Sachregister. Insofern ist dies „nicht nur ein gutes, sondern auch ein schönes Buch“ (Bischof Hein), sondern erst recht auch ein sehr intensiv und sorgfältig recherchiertes und gekonnt zusammengestelltes Buch von enormem Fleiß, das vor allem auch durch die Register ein hervorragendes Nachschlagewerk ist! Und der ja nicht gerade geringe Verkaufspreis für dieses Werk hat durchaus seine Berechtigung und sollte´ so manchen Interessierten lieber nicht abschrecken. Dank dem Verlag, der den Mut aufbrachte, dies Buch zu verlegen. Gbiorczyk hat am Ende der Biografie einige Kernsätze Wibbelings zusammengestellt, die so natürlich auch die Position des Autors wiedergeben. Mit einem Kernsatz, der auch heute wieder so aktuell ist wie damals (1921), möchte ich schließen: "Gott ist mehr als Volk. Es gibt keinen deutschen Gott, keinen englischen, keinen jüdischen Gott, es ist ein Gott, der der Vater aller Menschen ist." Lothar Grigat