Diese beginnt an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Wien und verzeichnet bis zur Machtergreifung der Nationalsozialisten eine kontinuierliche Entwicklung in Österreich und Deutschland. Ab dieser Zäsur zwang der Antisemitismus die überwiegend jüdischen Analytiker zur Emigration ¬ mit der Folge, dass das psychoanalytische Denken hierzulande dramatisch verarmte, jedoch in jenen Ländern aufblühte, welche die Emigranten aufnahmen. Am bekanntesten ist die Auswanderung in die englischsprachige Welt. Doch zahlreiche Analytiker fanden in den 30 und 40er Jahren ihren Weg auch in die großen Länder Lateinamericas.
In Brasilien gab die Ankunft der jüdischen Ärztin Adelheid Koch aus Berlin 1936 den Startschuss für eine Professionalisierung der klinischen Praxis. Im Vorfeld hatten die brasilianischen Kollegen sich sehr um die Gewinnung eines europäischen Psychoanalytikers bemüht. Als Adelheid Koch dann eintraf, begegneten ihr ihre künftigen Schüler nicht nur mit großem Interesse, sondern bereits auch soliden theoretischen Vorkenntnissen, ja, hatten in den 20er Jahren teilweise sogar mit Freud selbst korrespondiert. Seit kurzem wissen wir deutlich mehr über den Beginn dieser intellektuellen Aneignung einer ungewöhnlichen Wissenschaft, die gewissermaßen ein Stück autodidaktischer Anstrengung bedeutete. Schon im Jahr 1914 wurde der Arzt Genserico Aragão de Souza Pinto mit der Schrift Da psicoanalise (A sexualidade nas nevroses) von der faculdade de medicina von Rio de Janeiro promoviert. Dort gab es seit 1881 einen Lehrstuhl für Psychiatrie.
Dank dem Brasilianisten Hannes Stubbe, der heute an der Universität Köln psychologische Anthropologie vertritt, zuvor lange Jahre Gastprofessuren in Rio, Sao Paulo sowie Maputo innehatte und erfolgreich die Archive in Rio durchstöberte, liegt diese Schrift jetzt als Faksimile in einer sorgfältig kommentierten Ausgabe vor. Ihm gelingt es, sie nicht nur im wissenschafts-, sondern auch im sozialhistorischen Kontext der alten Republik und ihres positivistischen Wissenschaftsverständnisses zu verorten. Diese Arbeit verdient besonderes Interesse, weil sie nicht nur die erste Schrift über die Psychoanalyse in Brasilien, sondern überhaupt in der portugiesisch sprachigen Welt darstellt, und die zweite lateinamerikanische Publikation. Unterstützt durch Stubbes ausführliche Kommentare und Recherchen zu den verwendeten Quellen, kann man bei ihrer Lektüre eine Reihe von Beobachtungen anstellen. Natürlich wäre es unfair, von Pintos Pionierleistung eine vollständige Kenntnis des damals vorliegenden Oeuvres freuds zu verlangen. Denn 1914 war Freud immerhin 58 Jahre alt, und seine Schriften besaßen zu diesem Zeitpunkt bereits einen erheblichen Umfang.
Es ist überhaupt bemerkenswert, dass die brasilianische akademische Psychatrie sich der Psychoanalyse gegenüber öffnete, ein Vorgang, von dem die Psychoanalytiker Deutschlands oder Österreichs nur träumen konnten. Und natürlich spielte die Sprachbarriere in ihrer Rezeption eine große Rolle. Bis heute existieren zahlreiche Übersetzungen von Freuds Werken nicht aus dem deutschen Original, sondern über den Umweg der englischen Übersetzung, was zu zahlreichen Ungenauigkeiten und Bedeutungsverschiebungen führt. Pinto verfügte natürlich über keinen portugiesischen Text. Er muss einige Deutschkenntnisse besessen haben, da er manche Begriffe Freuds direkt zitiert und mit deren Übersetzungen ins Portugiesische auch in diesem Feld bahnbrechend war. Ob er wirklich die Arbeiten, auf die er sich beruft, vollständig durchstudiert hat, ist allerdings fraglich. Eher scheint er ein Hilfsmittel genutzt zu haben, das ja auch heute noch zur Anwendung kommen soll: Er bediente sich vor allem französischer Sekundärliteratur über Freud, ohne dies in jedem Fall anzugeben. Mit diesem Trick gelang ihm die Überwindung der von Stubbe als lateinische Mauer bezeichneten Distanz zwischen den romanischen und den germanischen Sprachen.
Allerdings konnte Pinto sich auch auf die besondere Hilfe seines Doktorvaters Juliano Moreira verlassen. Dieser, ein großer Psychiater seiner Zeit, hatte eine besondere Affinität zur deutschen Psychiatrie bewiesen, die damals eine internationale Führungsrolle innehatte, und als junger Mann einen zweijährigen Studienaufenthalt in Deutschland verbracht. Dabei hatte er auch den Großmeister der klassischen deutschen Psychiatrie Emil Kraepelin persönlich kennengelernt und dessen Klassifikation psychischer Erkrankungen, die bis heute internationale Relevanz besitzt, nach seiner Rückkehr in Brasilien eingeführt. Kraepelin lehnte die Psychoanalyse ab; seine brasilianischen Kollegen hatten da weniger Schwierigkeiten mit der Integration unterschiedlicher Denkrichtungen. Es ist naheliegend anzunehmen, dass Pinto zu weiten Teilen die Gedanken seines Lehrers ausführte. Dessen Schriften wie auch die anderer brasilianischer Autoren ignoriert er jedoch, worauf Stubbe hinweist.
Eine Auffälligkeit dieser Dissertation soll jedoch nicht unerwähnt bleiben. Wie in ihrem Untertitel a sexualidade nas nevroses angedeutet, setzt sie sich vor allem mit jenem Aspekt der Psychoanalyse auseinander, der das Thema der Sexualität behandelt - allerdings nicht der Phantasien und des inneren Erlebens, wie freud es entwickelt hatte, sondern des konkreten sexuellen Aktes. Dabei fährt Pinto zu einem wahren Feldzug gegen Onanie und masturbation als Ursache allen Übels auf. In jenem Abschnitt gegen Ende, der sich mit therapeutischen Empfehlungen auseinandersetzt, defeniert er als Ziel der Psychotherapie die reeducacão, welche die Form von condencão oder sublimacão des anstößigen Triebimpulses -(tendência) anehmen könne.
Das Ziel der Sublimation hätte freud gewiss mit unterschrieben, doch bei dem Gedanken einer Verurteilung des sowieso schon Verpönten hätte er, der Aufklärer, sich wohl schon sehr missverstanden gefühlt In einem letzten Kapitel mit 5 kurzen Fallgeschichten erklärt Pinto auch, was er damit meint, indem er Einblick in sein eigenes ärztliches Handeln gibt bzw. in einem Fall in jenes seines Lehrers Juliano Moreira. Hier wird es besonders plastisch, und wir erfahren einiges über das Schicksal von Migrantinnen und Witwen, über die frühe Verwendung des Automobils als Ort verbotener Liebe und die Flucht der Patientinnen aus der Therapie, wenn die Beziehung zum Arzt allzu intensiv zu werden drohte. Dessen Instrumentarium war wohl eher begrenzt: die Patientin zum Eingeständnis masturbatorischer Praktiken zu bringen und ihr beispielsweise durch die Instruktion des Ehemannes zu einem regelmäßigen Geschlechtsverkehr zu verhelfen. Im analog gelagerten Fall eines Studenten, des einzigen männlichen Patienten dieser kleinen Sammlung, bleibt offen, mit wem der Akt denn ausgeführt werden soll; man darf vermuten, dass Pinto den Besuch von Prostituierten empfahl.
So reflektiert sich in dieser kleinen Schrift vieles von dem, was für Brasilien typisch sein mag: eine große Offenheit gegenüber Neuem, die Fähigkeit zur Überwindung realer oder vermeintlicher Differenzen, eine große Nähe zu französischen Autoren und zum französischen Denken unter vernachlässigung des eigenen, aber auch eine Neigung, einen revolutionären Impetus mit außerordentlicher Freundlichkeit ins Leere laufen bzw. in bürgerlicher Konventionalität versanden zu lassen. Dennoch bat Hannes Stubbe uns hier einen Meilenstein in der Geistesgeschichte dieses Landes zugänglich gemacht, der die Psychoanalytiker Brasiliens und besonders Cearás, Pintos Heimat. mit nachvollziehbarem Stolz erfüllt.