Dieser Band des bekannten Görlitzer Soziologen und Hochschulprofessors Anton Sterbling, der in diesem Jahr sein sechzigstes Lebensjahr vollendet hat, enthält Aufsätze, die bis auf zwei Beiträge in den Jahren 2008 - 2010 in der Zeitschrift Land-Berichte (beziehungsweise Sozialwissenschaftliches Journal bzw. Land-Berichte. Sozialwissenschaftfiches Journal) erschienen sind. Ihre Bedeutung erwächst nicht nur aus der profunden Kenntnis der Fachliteratur in so unterschiedlichen Feldern wie der Struktur moderner Gesellschaften, der Staatskunde, der Kommunismus- und Transformationslehre, der Kulturwissenschaften und der Eliten- und Migrationsforschung. Ihren besonderen Wert beziehen diese Untersuchungen aus der Verbindung zwischen der Theoriedebatte und ihrer Anwendung auf spezifische Problemstellungen südosteuropäischer Gesellschaften. Dass dabei Themen mit Bezug zu Rumänien, dem rumänischen Banat und der dort lebenden bzw. von dort ausgewanderten deutschen Minderheit einen besonderen Stellenwert einnehmen, verwundert nicht angesichts der Tatsache, dass der Autor, selbst Banater Schwabe, zu diesem Raum seiner Abstammung eine spezielle Affinität besitzt. Thematisch ist der Band in drei Gruppen gegliedert. Der erste Teil setzt sich mit "Entwicklungsverläufen in Südosteuropa" auseinander. In einem ersten Aufsatz geht Sterbling der Frage nach, welche grundlegenden Unterschiede sich zwischen der Entwicklung moderner (westlicher) Gesellschaft und derjenigen südosteuropäischer Gesellschaften aufzeigen lassen. Dabei gelangt er zu dem Schluss, dass sich die modernen posttraditionalen Gesellschaften durch einen hohen Grad sozialen Vertrauens ihrer Bürger in öffentliche Institutionen des Staates kennzeichnen, während die nur teilweise modernisierten Gesellschaften Südosteuropas als "Gesellschaften des ,öffentlichen Misstrauens"´ und der "Dominanz persönlicher Abhängigkeitsbeziehungen" bezeichnet werden können. Dem "bürokratischen-rationalen Anstaltsstaat" der Modeme und Postmoderne im Westen stellt Sterbling den immer noch bestehenden "neopatrimonialen und klientelistischen" Staat im Südosten Europas entgegen.
In einem weiteren Text dieses Abschnitts geht der Autor der Frage nach, inwieweit die Fortdauer traditioneller Wertvorstellungen in diesem Raum auch an der Frage des Umgangs mit der Zeit abzulesen ist. Interessant erscheint der Forschungsansatz Sterblings in dem Aufsatz über Probleme ländlicher Räume in Südosteuropa, worin er, wiederum bezogen auf Rumänien, die nach der Nationalstaatsbildung unternommenen Agrarreformen auf ihre nicht beabsichtigten Auswirkungen auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Modemisierungsprozesse analysiert. Der zweite Abschnitt des Bandes ist Fragen des Banats und der Banater Schwaben gewidmet. In einem ersten Aufsatz über "Kultur in Grenzräumen" geht der Autor der Problematik von regionalen Kulturen in multiethnischen Gesellschaften nach, die er sowohl im Kontext der nationalstaatlichen kulturellen Entwicklung als auch in ihrer Beziehung zu den Kulturen des jeweiligen "Mutterlandes" untersucht. Sterbling, selbst Gründungsmitglied der Temeswarer Schriftstellervereinigung "Aktionsgruppe Banat", unterstreicht dabei die "unersetzliche Bedeutung ,kultureller Ränder´, die aus der Sicht der sich überragend und mächtig dünkenden Zentren zumeist weitgehend unterschätzt wird."
Am Beispiel der Banater Schwaben untersucht Sterbling den Zusammenhang von kultureller Identität und Ethnizität im Laufe ihrer Geschichte, wobei er nicht nur die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, zwischen den beiden Weltkriegen und während der kommunistischen Herrschaft untersucht, sondern auch die Auswirkungen der Emigration der Banater Schwaben und ihrer Eingliederung in die "bundesdeutsche Bezugsgesellschaft" einbezieht. Einen weiteren Beitrag widmet der Autor der Frage nach der Bedeutung der Ursprungsmythen für die Herausbildung der kollektiven Identität und der Erinnerungskultur der Banater Schwaben. Ein wiederkehrendes Motiv bei Sterbling stellt die Untersuchung der spannungsreichen Interaktion zwischen dem kommunistischen System und den Lebenswelten der deutschen Minderheit in Rumänien dar. ln einem Beitrag über die Rumäniendeutschen und die Hinterlassenschaft der rumänischen Geheimpolizei Securitate CNSAS widmet sich Sterbling einem ganz aktuellen Thema, das nach der partiellen Offnung der Securitateakten im letzten Jahrzehnt nicht nur für die rumänische Mehrheitsbevölkerung, sondern auch für die vorwiegend in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Angehörigen der deutschen Minderheit eine besondere Bedeutung erlangt haben. Die Debatte über dieses Thema erreichte durch die Tatsache, dass bekannte rumäniendeutsche Schriftsteller wie Herta Müller, Richard Wagner, William Totok und Sterbling selbst sich nach erfolgter Einsicht in ihre Akten zu Wort meldeten, einen hohen Grad öffentlicher Aufmerksamkeit.
lm Mittelpunkt der Debatte stand nicht zuletzt auch die Frage des "Freikaufs" von Angehörigen der deutschen Minderheit aus Rumänien durch die Bundesrepublik bis zum Fall des Kommunismus. Sterblings Vorwurf an die mit dem Umgang mit den Akten der Securitate befasste, 1999 gegründete rumänische Behörde, sie vernachlässige diese Frage, ist allerdings inzwischen weitgehend hinfällig geworden. In einem fast tausend Seiten umfassenden Band veröffentlichte die betreffende Behörde im Jahre 2011 den von Florica Dobre Luminita Banu Lmd Laura Stancu herausgegebenen Band ,“Recuperarea“: Securitatea ,si emigrarea germanilor din Romania (1962- 1989) [,Die Wiedererlangung": Die Securitate und die Emigration der Deutschen aus Rumänien ( 1962-1989)], worin eine Vielzahl von Dokumenten der Securitate zu den rumänisch-deutschen Verhandlungen über die Ausreisebewilligung der Deutschen aus Rumänien ausführlich publik gemacht wurde.
Im dritten und letzten Teil des Bandes schließlich geht der Autor auf die ebenfalls höchst aktuellen Fragen der Migrationsprozesse in Südosteuropa und ihre Folgen ein. Er untersucht in einem ersten Beitrag Fällevon Zwangsmigration aus Südosteuropa, während ein zweiter Aufsatz sich dem Zusammenhang zwischen Migration und der Verbreitung von sozialer Ungleichheit über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus anband von Fallbeispielen südosteuropäischer Staaten widmet. Bei den Folgeproblemen dieser Migrationsprozesse handelt es sich nicht nur, wie Sterbling in einem dritten Aufsatz darlegt, um das nach dem Fall des Kommunismus und dem Zerfall Jugoslawiens neu entstandene Wohlstandsgefalle innerhalb der südosteuropäischen Staaten, sondern auch um die nach der EU-Erweiterung entstandene Verlegung dieses Wohlstandsgefälles in den Raum der Gemeinschaft.
Ein anregendes, kenntnisreiches und aktuelles Buch, dem eine breite Leserschaft und wissenschaftliche Aufmerksamkeit zu wünschen ist.