Seit 2007 gibt es unter der Leitung von Ortrun Riha an der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig das Forschungsvorhaben "Wissenschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert zwischen Deutschland und Russland in Chemie, Pharmazie und Medizin". Als Bände zwei und drei in der von diesem Vorhaben herausgegebenen Reihe "Relationes" sind die hier zu besprechenden Publikationen von Thomas Schmuck und Regine Pfrepper erschienen.
Den medizin-historischen Ertrag dieser Publikationen mag der Fachmediziner beurteilen. Allgemein ist festzustellen, dass Arbeiten von Wissenschafts-und Technikhistorikern nur ungenügend von der Zunft der Historiker zur Kenntnis genommen werden, weshalb sich eine Rezension in den Jahrbüchern für Geschichte Osteuropas anbietet, in der die Bedeutung dieser Publikationen für die Wissenschaftsgeschichte Russlands und für die Erforschung der deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen zu bewerten ist. Die Entwicklung der medizinischen Wissenschaften ist im 18. und 19. Jahrhundert durch eine ständig zunehmende internationale Kooperation charakterisiert.
Für zwei spezielle Zweige der Medizin behandeln jetzt die Arbeiten von Schmuck (Embryologie) und von Pfrepper (Physiologie) diese besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von russischer Seite intensiv durch staatliche Delegierungen geförderten Beziehungen. Da es zwischen beiden Disziplinen Überschneidungen gibt, werden mehrfach dieselben Personen und gleichartige Probleme -unter unterschiedlichen Aspekten -behandelt. Wertvoll sind in beiden Bänden die umfangreichen bibliographischen Anhänge und die biographischen Angaben zu den behandelten Wissenschaftlern. Der Untertitel der Arbeit von Schmuck erfasst den Inhalt exakt: "Die Grundlagen der Embryologie im 19. Jahrhundert"; beziehungs-geschichtliche Aspekte erlangen Bedeutung, da viele Mediziner ihre Ausbildung in Deutschland erhalten oder ergänzt haben.
Später sollten sie als Wissenschaftler in Dorpat, in Sankt Petersburg und an anderen Universitäten Russlands wirken (u. a. Caspar Friedrich Wolff, Christian Heinrich Pander, Kar! Ernst v. Baer). Die Ausführungen über das Nationalitätsverständnis v. Baers (S. 153 f)-er bezeichnete sich selbst mal als Deutscher, mal als Este, mal als Russe - ist allgemein für das Empfinden des Nationalen zu jenen Zeiten aussagekräftig, da noch nicht der sich entwickelnde Nationalismus das Denken bestimmte. Über das Wirken von C. F. Wolff bietet Schmuck informative Darlegungen und viele Literaturangaben (vgl. S. 30, Anm. 111)-und doch sind Ergänzungen möglich; nicht genannt sind die umfangreiche Monographie von A. E. Gajsinovic: K. F. Vol´f i ucenie o razvitii orga-nismov (C. F. Wolffund die Lehre von der Ent-wicklungder Organismen), Moskau 1961 sowie die zweisprachige (russische und lateinische) Quellenedition "Predmety razmyslenij v svjazi s teoriej urodov" (Obiekta meditationum pro theoria monstrorum -Objekte des Überlegens zur Theorie der Missgeburten), Leningrad 1973. Schmuck verweist auf das "geplante Werk" Wolffs zu dieser Thematik (S. 32, vgl. S. 157), die Edition der Handschrift ist ihm entgangen.
Anders ist die Arbeit von Pfrepper angelegt. Sie bietet rur Russland einen Überblick über die Entwicklung der Physiologie als spezieller medizinischer Disziplin. Die Arbeit ist nach den Institutionen gegliedert und trägt damit für die Geschichte der Medizin an der Petersburger Akademie und an den Universitäten Russlands handbuchartigen Charakter. Eine ausruhrliehe Bibliographie listet die Übersetzungen deutsch-sprachiger medizinischer Lehrbücher und Monographien ins Russische sowie russischer Publikationen ins Deutsche fiir die Zeit von 1796 bis 1932 auf. Fast die Hälfte des Buches ist der nach Autoren geordneten Bibliographie deutschsprachiger Veröffentlichungen (getrennt nach in Deutschland bzw. in Russland publizierten Arbeiten) von Physiologen aus dem russischen Reich vorbehalten. Vorangestellt ist jeweils ein tabellarischer Lebenslauf des Autors, in dem die Verbindungen zu Deutschland ausführlich vermerkt sind.
Sowohl Schmuck als auch Pfrepper benutzen die von Komkov, Levsin und Semenov heraus-gegebene "Geschichte der Akademie der Wissenschaften der UdSSR", Pfrepper in der ersten russischen Auflage von 1974, Schmuck die überarbeitete zweibändige russische Ausgabe von 1977. Beiden ist die von Conrad Grau besorgte und durch Hinweise auf die deutschsprachige Literatur in den Anmerkungen ergänzte, in Berlin 1981 erschienene deutsche Ausgabe entgangen.
Peter Hoffinann, Nassenheide