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Rezensionen

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978-3-8322-6642-4
Marc Engels
Die "Wirtschaftsgemeinschaft des Westlandes"
Bruno Kuske und die wirtschaftswissenschaftliche Westforschung zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik
Aachener Studien zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte
Rezension
Rheinische Vierteljahrsblätter, 30.09.2010

Die Aachener Dissertation möchte, wie Engels zu Beginn darlegt, am Beispiel der Berufsbiogra-phie des Kölner Wirtschaftswissenschaftlers und -geographen Bruno Kuske eine strikte Vorstellung revidieren: nämlich die einer von den konkreten politischen und historischen Bedingungen abgeho-benen und unabhängig forschenden Wissenschaft einerseits und andererseits einer Politik, „die aus dem Wissensangebot das ihr Genehme auswählt". Die Arbeit solle vielmehr dazu beitragen zu erklä-ren, „warum sich die Wissenschaft mit ihrem traditionell hohen Autonomiegrad und -anspruch nicht nur reibungslos in die nationalsozialistische Gesellschaft einfügte, sondern aktiv an ihrer Gestaltung mitarbeitete" (S. 8). Zur Beantwortung dieser Frage geht Engels dem theoretischen Selbstverständnis Kuskes nach, der als Wirtschaftswissenschaftler in seiner Wirtschaftsraumlehre und der damit ver-bundenen grenzüberschreitenden ökonomischen Westforschung seinen gesellschaftlichen Nutzen ebenso in der Weimarer Republik wie unter der NS-Herrschaft unter Beweis zu stellen suchte. Zu diesem Zweck „produzierte" Kuske nicht nur nationalökonomisch „verwertbares Wissen", sondern suchte es zugleich auch in den Massenmedien seiner Zeit, vor allem im Rundfunk, aber auch in der Presse, zu verbreiten und zu popularisieren. Er betrieb damit die Durchsetzung einer neuen Wissen-schaftsdisziplin, die sich auf ein kommunikatives Netzwerk stützte und damit „Medialisierung", ja „Massenmedialisierung" betrieb und geschickt die eigene Machtposition Kuskes in der Wissen-schaftsorganisation stärkte. Kuske (geb. 1876 in Dresden, gest. 1964 in Köln) ist ein interessantes Beispiel dafür, dass es im Kaiserreich in einzelnen Fällen möglich war, dass ein begabter junger Mann aus einer Handwerkerfamilie, der nur die Volksschule besucht hatte, über den Besuch einer Präparandenanstalt und eines Volksschullehrerseminars nicht nur ein Universitätsstudium absolvieren und promovieren konnte. Es war ihm vielmehr sogar möglich, sich an der Kölner Handelshochschule schon 1908 auch zu habilitieren und 1919 an der neu gegründeten Kölner Universität Ordinarius für Wirtschafts-geschichte und 1923 auch für Wirtschaftsgeographie zu werden. In den Jahren 1917 bis 1923 hatte er die vierbändige Quellensammlung zur Geschichte des Kölner Handels und Verkehrs im Mittelalter veröffentlicht. Auch hatte er den Grundstock zum Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsarchiv gelegt, das er seit 1920 leitete. Die Kölner Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät wählte ihn 1923 zum Dekan und die Universität 1931 zum Rektor. Es war allerdings nicht ganz so, dass Kuske, wie S. 8 vermutet wird, 1923 in Köln „erster wirtschaftshistorischer und -geographischer Ordinarius einer deutschen Hochschule" gewesen wäre. Diese Verbindung war älter. Und was die Etablierung der Wirtschaftsgeographie als eigenständige Disziplin betrifft, so waren hierin schon 1912 Alfred Rühl, der „Altmeister der Wirtschaftsgeographie" (Erich Otremba) an der Universität Berlin und ebendort 1913 der Verkehrsgeograph Ernst Tiessen voraufgegangen. Die Grundqualifikation Kuskes lag auf dem Gebiet der Wirtschaftsgeschichte. Von hier aus erschloss er sich die Dimension der wirtschaftlichen Funktion und Verflechtung von Räumen und wurde nach dem Ersten Weltkrieg der erste wirtschaftswissenschaftliche Vertreter der sog. Westfor-schung. Hatte Kuske im Ersten Weltkrieg, im Unterschied etwa zu dem Bonner Nationalökonomen Hermann Schumacher, der an der Kriegszieldiskussion von 1914ff. einen erheblichen Anteil hatte, noch kaum eine Rolle gespielt, so gewann er nach dem Krieg als Forscher und Wissenschaftsmanager beträchtlich an Einfluss. Engels´ berufsbiographischer Ansatz zeigt, dass Kuske ein professionelles Netzwerk aufbauen konnte, das ihn bis 1933 in der rheinisch-westfälischen Wissenschaftsorganisa-tion, aber z.T. auch über diese Region hinaus, zu einem wichtigen Koordinator sowohl der Raum- als auch der grenzüberschreitenden Westforschung machte. Mit einer immensen Betriebsamkeit, die Engels im Einzelnen deutlich zeigt, „etablierte" Kuske sich als Experte für ökonomisch-historische Fragen Westdeutschlands, „positionierte" sich als neutraler und unabhängiger Fachmann und ent-wickelte „dynamische Aktivitäten mittels Vernetzung" (S. 188). Dieses von Kuske teils selbst aufgebaute, teils übernommene und benutzte wissenschaftliche Netzwerk, in das er sich selbst immer wieder einbrachte, war zwar in erster Linie auf Köln und den rheinisch-westfälischen Raum zentriert, reichte aber schon vor 1933 bis in die Berliner Hauptverwaltungen der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Reichsarbeitsgemeinschaft für Raumforschung, bis in das Zentrum der Reichs-stelle für Raumordnung, ins Berliner Institut für Konjunkturforschung und sogar ins Auswärtige Amt. Der Schwerpunkt lag aber im Dreieck der rheinischen Universitäten Bonn und Köln und der RWTH Aachen, darüber hinaus auch in Kuskes engen Kontakten zur Universität Münster und zum dortigen Westfälischen Provinzialinstitut. Vor allem im Rheinland selbst erwiesen sich die Beziehungen Kuskes zur provinzialen Landesplanungsgemeinschaft, zur Rheinischen Volkspflege und deren Gegenprogramm zur Kulturpropaganda der französischen Besatzungsmacht, zum Bonner Institut für geschichtliche Landeskunde und nach 1933 zu den westlichen Aktivitäten der Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften als sehr eng. Auch waren die schon 1920 von dem Duisburger Oberbür-germeister Most gegründete Volkswirtschaftliche Vereinigung im Rheinisch-Westfälischen Industrie-gebiet und das 1926 in Essen errichtete Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung für Kuske schon bald zu wichtigen Partnern geworden. Hinzu kamen besonders nach 1933 auch Kuskes Initiativen zur Gründung von Hochschularbeitsgemeinschaften für Raumforschung an den rheini-schen Universitäten, die Landesarbeitsgemeinschaften für Raumforschung und, besonders im Zweiten Weltkrieg, die Westdeutsche Forschungsgemeinschaft, die sich mit nationalsozialistischer Rückendeckung zunehmend mit grenzüberschreitenden, mehr und mehr auch propagandistischen und annexionistischen Plänen für die Niederlande, Belgien und Nordfrankreich befasste. In diesem verwirrenden Knäuel von Verbindungsfäden, die hier nicht einmal alle genannt werden können, konnte sich Kuske anfangs als dominierende Persönlichkeit einrichten. Engels´ Dissertation leistet hier grundlegende Erkenntnisarbeit. Es überrascht allerdings in der Darstellung Engels´, wie Kuske als ehemaliger Sozialdemokrat, der sich auch schon im Zusammenhang mit seinem außerhalb des Bildungsbürgertums gelegenen Engagement am Kölner Freigewerkschaftlichen Seminar (gegr. 1920) für zehn Jahre als nebenamtlicher Dozent eingebracht hatte, den Einschnitt von 1933 - lediglich durch eine kurzzeitige Amtsbeurlaubung an der Universität unterbrochen - überstehen konnte. Dabei haben wohl seine in der Weimarer Republik und während des alliierten Besatzungsregimes unter Beweis gestellte nationale Gesinnung und seine prominente Mitwirkung an der patriotischen Kölner Jahrtausendfeier von 1925 sowie seine bis dahin erwiesene Nützlichkeit für die Stadt Köln und ihre kommunale Universität eine Rolle gespielt. Engels legt hier aber auch den Gedanken nahe, dass 1933 möglicherweise auch die enge Zusammenarbeit Kuskes mit Walther Däbritz, dem nationalsozialistischen Leiter des Essener Rhei-nisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (Affiliation des Berliner Instituts für Konjunk-turforschung) eine für Kuske „entlastende" und hilfreiche Bedeutung hatte. Kuske setzte sich in der Folge umso mehr für die nationalsozialistische Sache ein, als er behauptete, auch schon früher eine Synthese nationalen und sozialen Gedankenguts angestrebt zu haben, und wurde 1937 in die NSDAP aufgenommen, wobei - das sagt Engels allerdings nicht - sicher auch Gauleiter Grohe ein Wort mit-zureden hatte. Kuske nahm auch Aufträge für wissenschaftliche Ausarbeitungen über die Positionen des von der NSDAP unterstützten Grenz- und Auslandsdeutschtums an, schloss sich in der West-forschung der „Germanischen Forschungsaufgabe", besonders gegenüber den Niederlanden, an und wurde zu einem Verfechter wirtschaftlicher Großraumlösungen, bei denen z.B. die belgischen und niederländischen Nordseehäfen im Krieg schon als Teile einer großdeutsch-germanischen Infrastruk-tur verstanden und expansiv weiter verplant wurden. Aufträge der SS kamen hinzu. Auch wenn viele dieser Aktivitäten im Krieg oft weniger wissenschaftlichen als fast schon propagandistischen Charakter trugen, forderten sie doch die ganze Kraft eines rastlos arbeitenden Mannes, von dem man nicht so recht sagen konnte, wo er eigentlich seine Energie „tankte" und wo seine gesellschaftlichen und persönlichen Kraftquellen lagen. Engels „berufsbiographischer" Ansatz be-schreibt und analysiert hier fast ausschließlich Organisationsstrukturen oder -reibungen, wobei die Person Kuskes selbst eigentlich vage und grau bleibt. Das soziale Umfeld, seine Familie und Freunde bleiben außerhalb der Betrachtung. Hier stößt der berufsbiographische Ansatz, der auch in seiner spezifischen Beziehung zur biographischen Methode nicht genau definiert wird, m.E. an seine Grenzen. Denn abgesehen von der frühen Bildungsgeschichte Kuskes erfahren wir nur wenig und ledig-lich indirekt etwas über das private Umfeld dieser „Berufsbiographie". Welchen Familienstand Kuske überhaupt hatte, ergibt sich nur aus der Tatsache, dass es eine Tochter gab und er im August 1944, nach der „Aktion Gewitter" der SS, aus der Haft im Kölner Messelager einen Brief an seine Frau schreiben konnte, von der wir aber sonst, auch über ihr gesellschaftliches Umfeld, leider nichts erfahren. Die Tochter wird nur deshalb erwähnt, weil sie den Nachlass ihres Vaters im Historischen Archiv der Stadt Köln leider erst spät für die Forschung zugänglich gemacht hat. Selbst Kuskes Wohnquartiere in Köln, sein Verhältnis zu Nachbarn und Freunden oder seine Urlaubs- und Erho-lungsgewohnheiten, wenn er denn welche hatte, bleiben als soziale Merkmale seiner Vita fast ganz unerwähnt. Lediglich sein Wissenschaftlicher Assistent Walther Herrmann und sein Kollege Alfred Müller-Armack, mit dem ihn, wie es an einer Stelle heißt, „ein enges Verhältnis verband" (S. 309), werden an einigen Stellen nur im Kontext der wissenschaftlichen Zusammenarbeit erwähnt, so dass Effizienz und Friktionen der Kooperation weitgehend ohne persönliche Bezüge dargestellt sind. Insgesamt wäre jedoch auch dieser Hintergrund sozialgeschichtlich von Interesse gewesen. Vielleicht ist also der Begriff der „Berufsbiographie" hier doch etwas zu eng gefasst. Insgesamt muss man Engels´ Arbeit aber bescheinigen, dass sie die strukturellen und organisatorischen Aspekte als Kennzeichen des wirtschaftswissenschaftlichen „Netzwerks" Kuskes, das er z.T. noch über die Zäsur von 1945 hinaus erhalten konnte, gründlich erschlossen und analysiert hat. Dazu gehört auch die von Engels mit guten Gründen vorgenommene Einschränkung, dass es zwi-schen den europapolitischen Vorstellungen Kuskes in den Jahren nach 1940 und den europäischen Ideen der Nachkriegszeit kaum wirkliche Verbindungen gegeben hat und dass Kuske auf diese Pläne nach 1945 kaum noch innovativ Einfluss nehmen konnte. Eine solche umfassende Darstellung ist natürlich eine beachtliche Leistung. Dass Kuske in seiner Arbeit vor 1945 mehr und mehr auch ideo-logische Zugeständnisse an den NS-Geist gemacht hat, wird deutlich genug gesagt. Insofern stellt diese „Berufsbiographie", trotz der erwähnten methodischen Einwände, eine erhebliche kritische Leistung dar.

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